huber & teuwissen: Gespräch über Bartleby

„The whale in the room“

Die Regisseurin Mélanie Huber und der Autor und Dramaturg Stephan Teuwissen im Gespräch mit Karolin Trachte

 

In „Bartleby, der Schreiber“ gibt es einen zunehmend verzweifelten Notar, seine seltsamen und dauergestressten Mitarbeiter und schliesslich den bizarren Bartleby selbst. Ist das eine traurige oder eine komische Geschichte?

Mélanie Huber – Die Geschichte ist traurig und steckt gleichzeitig voller Komik!

Stephan Teuwissen – Es herrscht etwas wie komische Melancholie. Ich denke, der Text ist zu modern – oder zu barock – , als dass er nur traurig oder nur komisch wäre.

 

Wieso habt ihr euch dafür entschieden, Bartleby nicht zu besetzen?

Teuwissen – Das war uns eigentlich vom Anfang an klar. Bartleby ist dermassen undefinierbar, da wäre es schade, ihn mit einer Person zu besetzen.

Huber – Ich finde die Entscheidung naheliegend, denn die zentrale Figur ist der Notar. Mit ihm identifiziere ich mich, mit ihm leide ich mit…

Teuwissen – So wie bei Moby Dick nicht der Wal die Hauptfigur ist, sondern sich alles um Kapitän Ahab und seine Besatzung dreht. Bei Bartleby geht es um den Anwalt, der die Geschichte durchlebt.

 

Ist Bartleby der sprichwörtliche „elephant in the room“ – das grosse Eigentliche als Leerstelle im Zentrum?

Teuwissen – …oder vielleicht eher „the whale in the room“…

Huber – Bartleby ist ein Rätsel, die Bürde jedes einzelnen von uns. Wir alle tragen einen anderen, ureigenen Bartleby mit uns rum. Es ist das, was man nicht ansprechen oder aussprechen kann. Bartleby ist irgendwie überall. Und er geht nicht mehr weg. Sogar sonntags ist Bartleby da und egal wie viele Kündigungen der Notar auch ausspricht, egal wie viele Fristen er ihm setzt – Bartleby ist immer noch da. Wie ein Gespenst…

Teuwissen – Liest man alle Stellen, in denen Melville Bartleby beschreibt, hintereinander, bekommt man grosse Zweifel, ob es sich überhaupt um einen Menschen handelt; bleich, blass, bewegt sich fast nicht, isst kaum und hat eine “kadaverhafte” Disposition…

 

Würdet ihr sagen, Bartleby ist in seinem Nicht-Tun radikal?  

Huber – Bartleby ist zu Beginn sehr aktiv, er kopiert und schreibt ab wie ein Irrer. Er verschlingt die Urkunden regelrecht, als wäre es eine Form von Nahrung. Überhaupt ist Bartleby kein Beispiel für Nicht-Handeln. Der Satz „Ich möchte lieber nicht“ ist eine Handlung, denn das Sätzchen bewirkt ja einiges bei den anderen!

Teuwissen – Ich empfinde Bartleby mehr als einen Zustand als eine Person. Unter diesem Vorzeichen stellt sich dann nicht die Frage, ob er radikal ist oder nicht. Das wäre, als würde man sich fragen, ob Moby Dick radikal ist. Der Wal weiss gar nichts von Kapitän Ahab und seiner Besatzung und will auch nichts von ihnen. Man würde nicht fragen: Welche Absichten hat Moby Dick?

Kommen wir noch auf die anderen Figuren zu sprechen, Puter, Krabbe und Keks. Wer – oder was – sind die denn?

 

Teuwissen – Für mich sind sie drei fast die heimlichen Protagonisten des Stückes. Mit ihrem Übereifer bilden sie einen infernalischen Chor, der gerne ausschert und vor gelegentlichen Handgreiflichkeiten nicht zurückschreckt.

Huber – Im Gegensatz zu ihrem doch sehr ernsten Vorgesetzen ist es ihnen egal, ob sie jemand sind oder niemand. Es macht auch höllischen Spass, ihnen zuzuschauen! Die drei stehen irgendwie über dem Ganzen. Der Notar versucht sie ständig zu massregeln, dabei sind sie es oft, die ihn inszenieren, zeigen, wo es lang geht. Sie wollen dem Anwalt beistehen, aber dieser will eher Gehorsam als Beistand und das wiederum tut ihnen leid.

Der Anwalt scheint zwischen Bartleby und seinen schrullig-überdrehten Mitarbeitern der Normalste – und uns Nächste – zu sein. Und doch, auch er ist in einer Krise…

Huber – Sicher! Ein Anwalt ist zunächst ein Stellvertreter, einer, der nicht in eigener Sache agiert. Was passiert aber, wenn es plötzlich sehr wohl um ihn geht, um seine Person, und er entdeckt, dass er sich nicht herausrausreden und –winden kann, dass es ans Eingemachte geht. Bartlebys Auftritt zwingt ihn, in eigener Sache Stellung zu beziehen. Damit geraten seine Welt und seine Zeit aus den Fugen.

Teuwissen – Der Anwalt versucht ja nicht nur Bartleby, sondern auch die Zeit in den Griff zu kriegen. Das heisst, er versucht die Mühlen des Alltags, die Tücken des Objekts zu beherrschen.

Huber – Puters “dyspeptische Nervosität” oder die Abschriften oder die Quengeleien seiner Angestellten…

Teuwissen – Ja, es geht ihm um Macht. Das ist sicher auch das Moderne am Text: es gibt in diesem Anwaltsbüro Routinen und Abläufe, die als unentbehrlich definiert werden, im Grunde aber beliebig sind. Indem sie aber mit fast religiösem Furor fixiert und hochgeschraubt werden, bekommt jede Abweichung davon schon fast Weltuntergangscharakter.

 

Wie auch für eure vorangegangene Arbeit am Schauspielhaus, „Die Radiofamilie“ nach Ingeborg Bachmann, hat Pascal Destraz die Musik komponiert: Gesang, Marimba, Perkussion und Trompete. Wir entsteht die Musik und wie setzt ihr sie ein?

Teuwissen – Wir haben zu Beginn eine Reihe von amerikanischen Musikstilen ins Auge gefasst, die schlugen wir Pascal vor. Ausgangspunkt waren Prison- und Working-Songs, ausserdem die frühe amerikanische Klassik, auch Hymnen. Ausserdem die Form des Fuging-Tune, eine sehr eigene amerikanische Form des Kanons.

Huber – Aufgrund dessen komponiert Pascal erste Skizzen, wir hören uns das an, reagieren darauf. Auch das ist ein ständiger Dialog und wir entwickeln die Lieder Schicht um Schicht, verfeinern, verändern und ergänzen immer weiter. Wenn ein Lied fertig ist, muss ich es aber noch auf der Probe überprüfen. Manches wird auch später wieder gestrichen…

Teuwissen – …zum Beispiel weil es dramaturgisch nicht mehr funktioniert, das ist ein ständiges Verschieben und Rechnen. Sprache und Musik sind eng verwoben.

Huber – Die Musik hat dabei verschiedene Funktionen. Natürlich hilft mir die Musik, eine bestimmte Stimmung herzustellen. Oder manchmal lässt sie uns spüren, dass die Zeit vergeht. Und dann gibt es für die Figuren emotionale Momente, fast so als könnten sie gewisse Dinge einfach mit blossen Worten nicht mehr ausdrücken – und dann müssen sie singen. Manchmal vermitteln die Lieder aber auch Inhaltliches: Im Eingangslied, dem Fuging-Tune, ist eigentlich das ganze Rätsel schon enthalten…

 

Es ist typisch für Hermann Melville, dass er zahlreiche Hinweise auf zeitgenössische Ereignisse einflicht, auf Literatur wie Shakespeare, Malerei oder auch die Bibel. Unter anderem verweist er auf das Bild „Marius meditiert vor den Ruinen Karthagos“ des amerikanischen Malers John Vanderlyn: „Und hier haust Bartleby, einziger Zeuge der Stille, wie ein römischer General [Marius] grübelnd vor Karthargos Ruinen.“ (Bildabdruck siehe S.XX). Was hat es damit auf sich?

 

Teuwissen – Ja, diese Verweise sind zahllos! Und man weiss oft nicht: zitiert er nun etwas Wirkliches oder erfindet er? Das Vanderlyn-Gemälde steht beispielhaft für diese Lust am Zitat. Es ist – sicher für unsere Augen – ein „Schinken“ und strotzt vor Pathos und Aussagewucht: „Sehet her, hier sitzt ein verbannter General brütend vor den Ruinen einer einst mächtigen Stadt…“ Melville ironisiert diesen Bierernst, wenn er Bartleby, dieses blasse, ungreifbare Männchen, mit dem stolzen Marius Caius vergleicht.

Huber – Zugleich hat das Ganze aber auch einen melancholischen Selbstbezug.

Teuwissen – Sicher! Dieser General sitzt nicht nur vor den Ruinen Karthagos, sondern vor den Ruinen seiner Karriere, ähnlich wie Melville beim Schreiben von Bartleby. Und dieses Pathos und diese Überbedeutsamkeit machen aus dem Gemälde eine Absicht, die sich nie und nimmer verwirklichen lässt, das Gemälde selber ist eine Ruine seiner guten Absicht und das macht das Ganze auf Umwegen wieder liebenswert – oder doch spannend.

Huber – Das Bild der Ruine hat uns weiter beschäftigt. Auch der Anwalt berichtet seine Geschichte vor dem Hintergrund der Ruinen seiner selbst.

 

Melville nennt seine Erzählung im Untertitel „Eine Geschichte aus der Wall Street”. Er nimmt auch diese Wall Street, also Wand- oder Wall-Strasse, wörtlich?

Teuwissen – Es soll im 17.Jahrhundert an der Stelle der heutigen Wall Street einen aufgeschütteten Wall gegeben haben, damals als Schutz vor Angriffen der Eingeborenen – also eindeutig ein kolonialistischer Akt, eine Grenzziehung zwischen drinnen und draussen. Übrigens: Beim ersten Auftritt von Bartlebys heisst es nicht umsonst „Er stand auf der Schwelle…”

Huber – Eine Wand ist etwas, das trennt, schützt, abgrenzt. Es ist auch etwas Statisches. Das passt zu diesem namenlosen Notar, der alles schön festhalten will, schriftlich aber auch sonst. Er beharrt auf Statik, auf dem status quo. Also dachten wir über Wände, Mauern, Fassaden nach. Im Fortspinnen mit Nadia Schrader, der Bühnenbildnerin, entstanden das Element der Ziegelsteine und die Idee für die Wand-Tafeln. Nadia hat dann eine Art Riesenparavent entworfen – so wie ihn der Anwalt als Arbeitsplatz für Bartleby einrichtet – eine Wand also, die gleichzeitig beweglich ist und abschottet. Denn der Notar ahnt, dass Bartleby, dieser ungeplante Einbruch in sein Leben, ihm irgendetwas von Bedeutung zu sagen hat, etwas Wichtiges, und Unheimliches, das er nicht abschütteln und dem er nicht entgehen kann.

Teuwissen – Bartleby bringt, obwohl die Reglosigkeit selbst, sogar Wände in Bewegung…

 

Der Notar will Bartleby schon zu Beginn in Reichweite und dennoch aus dem Blickfeld haben. Damit er ihn kontrollieren und trotzdem ignorieren kann?

Teuwissen – Bartleby ist im wortwörtlichen Sinne eine Heimsuchung. Er sucht den Notar heim, ist also auch etwas, das zu ihm gehört. Der Notar hat – wie wohl wir alle – irgendwie aus sich selbst eine Bauruine gemacht, er ist eine lebende Bauruine, ein unfertig gebliebenes Werk. Gerade darum fürchtet er sich vor Bartleby, diesem Bürogespenst, das unleugbar präsent ist, aber sich nicht vom Betrieb befehligen lässt. Dadurch stellt er natürlich den Betrieb in Frage. Er ist aber sicher kein Rebell, kein Anarchist oder Ideologieträger. Er ist viel mehr eine unaushaltbare „Aussparung“ und gerade das macht unseren Notar so wirr und dann auch irre. Früh im Stück brüstet sich der Notar damit, dass er Leute kennt, „die nicht niemand sind“. Der Notar will eben nicht niemand sein und dann steht eines Tages gerade auf seiner Schwelle Bartleby, eine Chiffre für niemand.

Huber – Unser Notar ist im Grunde eine Jedermann-Gestalt und Bartleby ist die Umkehrung, das Negativ von Jedermann, er ist eine Niemand-Gestalt.

Teuwissen – Dem Notar geht es um Angleichung, um Anerkennung, Erfolg, Achtung. Bartleby lässt sich in diesem Angleichungswahn nicht einordnen. Er ist verflucht präsent, aber nie greifbar. Für den Notar ist das ein Albtraum, denn er kann umgehen mit Angestellten und mit Rivalen, mit Komplizen und mit Antagonisten. Aber Bartleby ist weder noch. Der Notar ist darauf angewiesen, ständig zu rotieren. Sein Karussell gerät aus dem Takt, wenn einer, der so anwesend ist, dennoch nicht mitläuft.

Huber – Der Notar versucht verzweifelt, sich in Fleiss zu retten, alles zu fixieren, aufzuschreiben und zu sezieren. Welche Ironie, dass Bartleby gerichtlich als Vagabund, als Herumstreunender verwahrt wird, er, der gerade der einzige ist, der sich eben nicht regt und bewegt! Und der Notar weiss sehr wohl, dass dies eine Ungerechtigkeit ist, aber unternimmt nichts dagegen. Inwiefern sind wir nicht nur Opfer der Welt, wie sie sich uns präsentiert, sondern auch Täter, Komplizen des Betriebes?

Teuwissen – Daher auch die Bemühung der Regie, diesen Notar als eine höchst menschliche Figur zu zeigen. Er soll keine Fratze sein, nicht als widerlicher Kapitalist oder Diener der Mächtigen daher kommen. Er ist wie wir, zugleich Opfer und Täter dieses Angleichungswahnes. Und irgendwann wird er, wie wir alle, vom Ganzen eingeholt, von der ultimativen Angleichung: vom Tod.

Huber – Ja, bei der Inszenierung suchen wir einen liebevollen und auch nachdenklichen Ton, keinen spöttischen oder kalten Blick, sondern eine fast zärtliche Ironie, die Nähe herstellt. Ich mag es, wenn das Publikum mit Zuneigung über diese liebenswerten Figuren auf der Bühne lachen kann. Ich möchte, dass die Menschen auf der Bühne sich eine Blösse geben, aber ich will sie sicher nicht blossstellen. Das ist einer der wichtigen Gemeinsamkeiten zwischen Stephan und mir, Zynismus und brutale Demontage ist nicht unser Ding. Das Ziel ist es den Text klingen und tönen zu lassen. Das Rätsel Bartleby auch akustische nachhallen zu lassen, um durch Gesang und Geräusche in diese Welt spielerisch, schmunzelnd einzutauchen…

Du sagst auch oft auf den Proben zu den Spielern: „He, das darf Spass machen!“

Huber – Ja, der Anwalt ist zunehmend verzweifelt und zum Glück gibt es dann die anderen Figuren um ihn herum. Die fangen ihn auf, schütteln ihn, fordern ihn heraus, treiben ihren Schabernack mit ihm…

Darum auch beim Proben deine vielen Hinweise auf die Blicke der Spielenden?

Huber – Genau, ich frage mich ständig, wer schaut wen an, und ist das ein Blickkontakt oder nur ein sich Anschauen oder Wegschauen oder Schielen … Darin liegt so viel Drama und so viel Beziehung und Geschichte…

Teuwissen: Das Drama des unbegabten Notars…

Unbegabt, worin ist er denn unbegabt?

TeuwissenIm sich selbst sein! Und das ist immer wieder Nährboden für Komik, wenn wir über das stolpern, was wir gerne wären…

Huber – Ja, es ist traurig und es ist lustig, wie bei…

Beide – Wie bei Buster Keaton!