… und die Trauer, deren falsche Heiligkeit das Versinken des sittlichen Menschen so drohend macht, erscheint unversehens in all ihrer Verlorenheit nicht hoffnungslos, verglichen mit der Lustigkeit, aus der unverstellt die Teufelsfratze hervorbleckt…
I. KARL KOLLER
Die Figur Charlie Kohler ist der rote Faden des Filmes, was allerdings nicht heisst, dass der Film seine – oder überhaupt eine – Geschichte erzählt.
Nomen est omen
Fast gleich fällt auf, dass Charlie keine gewöhnliche “Hauptfigur” ist. Sein erster Satz im Film thematisiert schon dass seine Rolle changiert: sein Bruder spricht ihn als “Edouard” an, und er antwortet, dass er “Charlie” genannt werden will. Kurz darauf erfahren wir, dass er dass er darauf besteht, von seinem Chef gesiezt zu werden. Charlie identifiziert sich, indem er sic distanziert.
Der Namenskoller geht aber weiter: Auf dem Aushang vor der Kneipe, einem Aushang, der gleich zwei mal deutlich gezeigt wird, heisst der Pianist “Koller”. Also nicht “Kohler”, wie der Name geschrieben wird.
Eine ganze Wolke an Bedeutungen schwingt da mit: Erstens spielt Charlie natürlich auf Chaplin an (mitten im Film, auf dem Weg zum Impresario, trägt er einen Mantel, der ihn entschieden zu gross ist und geht einen Watschelgang, der stark an Chaplin erinnert).
Wenn wir dann noch erfahren, dass Charlies Bruder Chico heisst – also wie einer der Marx-Brothers verfestigt sich der Verdacht, dass hier “Komische Typen” statt tieffundierte Charakteren gezeigt werden.
Des weitern klingt “Koller” auf Französisch gleich wie “Colère”, Wut also. Eine Tatsache, die schon leicht possierlich anmutet, wenn wir bedenken wie phlegmatisch Charlie meistens durch die Welt gleitet.
Aber auch die offizielle Orthographie des Namens, “Kohler” macht Sinn, da dies hindeutet auf Schwarz und Tirez sur le Pianiste Truffauts Hommage an Film Noir ist.
Charlie lässt geschehen, ihm stösst alles zu und er trifft kaum eigene Entscheide, dauernd ist er fremdmotiviert. Das gilt aber – und das ist wichtig – nicht nur für Charlie; die meisten Figuren in dieser Ballade von der traurigen Schenke schaukeln unbeschwert-verloren durch Räume, Strassen und Landschaften.
Diese Menschlein reden über sich mit grossen Abstand zu sich selbst, das geht so weit, dass Charlies Off-Stimme von einem andern Schauspieler gesprochen wird als Aznavour! Nicht mal in Gedanken hat hier einer noch die eigene Stimme…
Was diesen Abstand zu sich selbst angeht, ist Lena die grosse Ausnahme und wohl auch nicht von ungefähr, dass sie das Ende des Films nicht überlebt.
Auch der Film selber ist ohne materielles Zentrum, da gibt es keine “klare Geschichte mit schlankem Ablauf”, keine “Hauptidee”, Haupthandlung, keine traditionelle Dramaturgie, die sich auf das leidige amerikanische “plot- or character-driven”-Schema zurückführen liesse. Die aufgegebene Musikkarriere steht nicht symbolisch für z. B. Charlies Ehrgeiz oder seine Beziehungsunfähigkeit, das wäre eine konstruierte “Ursachen-Psychologie”. Dramaturgisch lese ich diese ominöse Abwendung der Laufbahn lieber allegorisch: nicht Charlies Lebenslauf, sondern die traditionelle Geschichte mit ihrer Fetischisierung von Entwicklung, Wende- und Höhepunkten, Dreiakter-Wahn, Genre-Eindeutigkeit, Schluss, Haupt- und Nebenfiguren-Hierarchie wird hier abgestreift.
Kurz nach dem Erscheinen des Streifens, als sich ein kommerzieller Misserfolg abzeichnete, distanzierte Truffaut sich für eine Weile von Tirez; dass ohne übergeordnetes Thema erzählt wurde, warf er nun sich und dem Film vor, , was er während der Erarbeitung so erfreut als befreites Erzählen hervorgehoben hatte, die spielerische, unbeschwerte Art des Drehs, denunzierte er nun.
Tatsächlich waren er und seine Bande wie launische Kinder vorgegangen; von Stimmung zu Stimmung changierend drehten sie je nach Tagesverfassung mal eine Groteske, mal eine Komödie, mal eine Pastiche oder ein Melodrama. Die fatale Schlussszene im Schnee ergab sich aus der terminlichen Verfügbarkeit der Spielenden: Ausser, dass Lena, die Figur der Dubois, sterben würde, stand kaum inhaltlich etwas fest! Erst im Schnitt entstand aus diesem Potpourri das brillante Werk, das heute den Status eines Klassikers innehat.
Trotz des Fehlens einer “Hauptidee”, trotz der “Unseriosität” beim Dreh franst Tirez nicht in beliebigen Bildern aus. Im Gegenteil, Truffaut und Co fanden dank ihrer etwas anarchistischen Unbeschwertheit (heute sprechen wir von Guerilla-Style) zu einer Erzählhaltung, die sehr wohl zu Dichte und Zusammenhalt und einer starken Binnenspannung führt, die sich für eine theatralische Umsetzung fruchtbar machen lässt
Pappkarton-Psychologie
Charlie lebt unter einer Glasglocke und vielleicht ist dieses Bild nicht gänzlich unangebracht, schreibt doch Sylvia Plath zeitgleich an ihrem Roman The Bell Jar. Oder, um das Bedeutungsfeld des Märchens zu benutzen: Charlie lebt in einem Glassarg. Und zwar seitdem er gekostet hat vom giftigen Apfel der Erkenntnis, dass eine Karriere sich kaum mit dem Bewahren der Unschuld erträgt. Diese Kausalität der schuldverursachenden Karriere und der daraus folgenden Weltabgewandtheit die aus dem Konzertpianisten Edouard den Kneipen-Klimperer Charlie machen, ist aber ein ziemliches ad hoc Gebilde. Das ist Pappkarton-Psychologie. (so wie das Schema des friedliebenden Bürgers, der dann durch einige Schurken in Ehre oder Familie oder sonstige soziale Würde angegriffen wird und nun eine dramaturgische carte blanche erhält, um sich blutig und ausführlich zu rächen für erlittenen Unbill, m.a.w. Rachepornographie).
Die aufgegebene Musikkarriere steht nicht symbolisch für z. B. Charlies Ehrgeiz oder seine Beziehungsunfähigkeit, das wäre eben eine konstruierte “Ursachen-Psychologie”. Dramaturgisch lese ich diese Abwendung der Laufbahn lieber allegorisch: nicht Charlies Lebenslauf, sondern die traditionelle Geschichte mit ihrer Zwangsjacke von “Entwicklung, Wende- und Höhepunkten, Schluss, Protagonist/Antagonist-Rhetorik” wird hier abgestreift.
Am Ende der Filmes kommen Blut, Schnee und Kohle(r) [Tod, Unschuld und Kunst] mit einer unheimlichen Logik zusammen. Zu dieser “Unheimlichkeit” gehört es, dass Charlie im letzten Bild wieder dasitzt wie am Anfang; ein Jukebox aus Fleisch und Blut, der immer wieder die gleichen Weisen spielt. Die Ereignisse sind hoch-dramatisch, aber eben nicht tragisch. Das Ende ist nur das Ende der Erzählung, nicht der “Schluss” einer Geschichte. Der Kreis, der sich hier schliesst, ist der Kreis eines Märchens.
Kommentatoren haben Tirez mehrmals als postmoderne/dekonstruierende Spielerei gewürdigt. Das verkürzt den Film auf seine erzähltechnische Brüchigkeit, die zudem eher modern als postmodern ist. Truffaut erklärt und betont entschieden, dass es ihm um une pastiche, nicht um eine Parodie ging und darin ist er ernst zu nehmen. Tirez ist näher bei Berlin Alexanderplatz als bei American Psycho.
Diesen kindlichen Adel teilen die Menschen Walsers mit den Märchenfiguren, die ja auch der Nacht und dem Wahnsinn, dem des Mythos nämlich, enttauchen. … Die [eindeutige Form] hat man in der großen profanen Auseinandersetzung mit dem Mythos zu suchen, die das Märchen darstellt. Natürlich haben seine Figuren nicht einfach Ähnlichkeit mit den Walserschen. Sie kämpfen noch, sich von dem Leiden zu befreien. Walser setzt ein, wo die Märchen aufhören.
Walter Benjamin über Robert Walser
“Der Pianist ist tot, es lebe der Pianist”
Edouard Saroyan hat sich nach dem Selbstmord seiner Frau von Karriere und seinem Namen getrennt und gibt seither als Charlie Kohler den Kneipenpianist.
“Charlie” ist allerdings keine “Rolle”, die Edouard sich zulegt, um seiner schmerzhaften Vergangenheit zu entkommen. Charlie ist nur eine weitere Rolle, wie auch Edouard schon nur eine “Kunstfigur” war (sie heisst ja Sarayon, wie der Künstler, den Truffaut sehr mochte). Das Verhalten und Denken Edouards ist kaum von Charlies Schwerenötertum zu unterscheiden, schon hier ist alles Rolle, Spiel und wie er bei seiner Gattin Therese gerne “Kunde und Kellnerin” spielte, so auch gibt Charlie später bei Clarisse den Kunden (der nicht zu zahlen braucht für ihre Liebesdienste) und die erste Auseinandersetzung zwischen Lena und Charlie besteht darin, dass er ihr Geld leiht.
Als Lena Charlie dazu bringen will, wieder Konzertpianist zu werden, benutzt sie die Investitur-Formel: Charlie ist tot, es lebe Edouard. Das ist ein fatales Missverständnis: Charlie und Edouard sind Spiegelungen vom Gleichen, nicht verschiedene Rollen.
Truffaut meinte mal, er wollte mit Tirez einen Film “sans sujet” (ohne Thema) drehen, nun, vielleicht ist ihm das sehr gelungen, Charie/Edouard ist keine Gestalt, kein handelndes Subjekt, sondern eine Stimmung, ein Typus, eine Maske – oder eben, ein Clown.
Ahnenforschung: Von der Kleist-Puppe zum Musik-Automaten: Charlie ist kein Kleist, eher ein Klimperer, er spielt in einer Kneipe auf wie ein juke box aus Fleisch und Blut, ein Automat, viele Organe ohne Körper, mehr Stimmung als Seele.
“Schlafwandlerische Souveränität, die aber mit grosser Entschlussunfähigkeit einher zu gehen scheint.”
Es ist nicht nur Charlie, der schlafwandelt, es ist der ganze Film, der ständig “neben den Schienen” läuft, als ob er im Traum gedreht worden wäre. Die Kamera benimmt sich “kunstvoll zerstreut”, stellt Intimität her und ist dann gleich darauf leicht ablenkbar, lässt sich von Nebensächlichkeiten oder Details verführen oder benimmt sich gar irreführend, scheint sich nicht entscheiden zu können – oder zu wollen!
Als Charlie zum Impresario geht, sehen wir ihn im Watschelgang durch einen langen Korridor – den Weg zur Karriere – gehen. Dabei erklingt unwirklich hallende Geigenmusik. Charlie zögert, die Klingel zu drücken und im Bild erscheint in Ultra-close-up seine Fingerkuppe, die vor der Klingeltaste innehält. Dann öffnet sich die Türe und eine attraktive Frau mit Geigenkoffer verlässt das Zimmer. Wahrscheinlich hat sie gerade dem Impresario vorgespielt. Und – die Kamera folgt der Geigerin, wie sie sich durch den gleichen Korridor entfernt, während Charlie eintritt und bald seine Klaviermusik gleich unwirklich hallend ertönt. Auf einmal scheint die Geigerin zu Protagonistin aufzusteigen, obwohl sie faktisch in diesem Auftritt Räume und Film auf Nimmerwiedersehen verlässt. Ihr Abgang ist ihr einziger Auftritt, und diese kleine, feine tragische Note lässt für mich das Wesen des ganzen Filmes anklingen. Charlies Watschelgang, der zu grosse Mantel, das Pathos der hallenden Konzertmusik, und die triste Schönheit, die sich ohne Hoffnung auf Rückkehr entfernt, in all dem schwebt eine Melancholie mit, die nicht-tragisch oder “dramatisch” ist und an Eliots Lovesong of J. Alfred Prufrock erinnert:
No! I am not Prince Hamlet, nor was meant to be;
Am an attendant lord, one that will do
To swell a progress, start a scene or two,
Advise the prince; no doubt, an easy tool,
Deferential, glad to be of use,
Politic, cautious, and meticulous;
Full of high sentence, but a bit obtuse;
At times, indeed, almost ridiculous—
Almost, at times, the Fool.
Nein! Ich bin nicht Prinz Hamlet, noch war ich dazu bestimmt;
Bin ein auch-anwesender Lord, einer, der dazu da ist,
eine Entwicklung zu beschleunigen, eine Szene oder zwei zu beginnen,
Den Prinzen zu beraten, ohne Zweifel ein bequemes Werkzeug,
Ehrerbietig, dankbar, dienen zu dürfen,
Schlau, behutsam und pingelig;
Gehobener Rede voll, aber leicht belämmert:
Zuzeiten, tatsächlich, fast lächerlich –
Fast, zuzeiten, der Narr.
Die Vorlage und die darin enthaltenen Figuren sind häufig unfähig, sich zu entschliessen, Partei zu ergreifen. Aber vielleicht ist es auch nur so, dass sie sich die Freiheit nehmen, ohne Schluss zu bestehen. Wir können auf den Pianisten schiessen, aber auf ihn schliessen, das wird schwierig, diese Freiheit geben Charlie und seine Welt nicht preis.
[Für gegen Schluss?] Stand bei Kleist in Thun im Untertitel “Porträt des Künstlers als verzweifelter Kleist” könnte es jetzt lesen “Panorama der Kleinkünstler als melancholische Charlies”.
Damit wäre, zwar etwas überfrachtet formuliert, dennoch vieles erfasst, was uns vorschwebt bei dieser Theaterarbeit. Die Figuren in Tirez sind keine Jahrhundert-Genies im Sinne Kleists, es sind Klein(st)künstler, Künstler des Kleinen, und es sind vor allem kaum noch Einzelwesen, sie bilden ein “Gesamtkleinkunstwerk”. Ihnen zeichnet eine sanfte Anarchie aus, wie Clowns eben, die mitten in der Manege sich noch zu überlegen scheinen, ob sie überhaupt auftreten wollen oder nicht. Sie sind die Gestalten aus dem Vorprogramm, Lückenfüller zwischen den Akten. Und so auch ist diese geplante Produktion ein Ensemblestück, eine Chorarbeit über einen Chor, der sich mal mehr, mal weniger einig ist, über was überhaupt auf dem Programm steht.
Die allumfassende Komik des Filmes fordert ständig heraus, löst aber keineswegs die Trauer. Vieles steht im krassen Widerspruch mit dem Vorgehenden oder Folgendem. Zwischen Geschehen und Grund des Geschehens klafft häufig eine Lücke, warum unterhalten sich die Figuren überhaupt miteinander, woher kommen sie? Ihre Vorgeschichten klingen wie Ausreden, ihre Taten, Gefühle, Äusserungen wirken wie Stehgreifeinfälle. Alles ist typenhaft veräusserlicht, gewollt unglaubwürdig, nur Vorwand, Staffage, Kulisse. Brecht forderte, dass die Szenen nebeneinander stehen, statt auseinander zu folgen, hier, bei Tirez ist es fast ein gegen einander.
Die Figuren besitzen eine “unechte Heiligkeit”, ihre Sanftmut erinnert an früh-christliche Märtyrer, die – so wollen es die Legenden – mit exaltierter Verzeihungsbereitschaft und salbungsvolles Ertragen ihren Martertod entgegensahen. Psychologisch gesehen verhalten sie sich wie Platzhalter im eigenen Leben, Gespenster oder fremdgesteuerte Zombies. Sie scheinen ihre eigenen Schicksale wie Unbeteiligte zu erdulden, noch krasser, zu zitieren oder zu markieren, wie bei einer Lichtprobe im Theater oder als Stand-Ins auf dem Filmset. Und dennoch nehmen wir sie nicht als kalt und gleichgültig wahr. Statt genährt aus Heilserwartung und christlichem Pathos, scheint hier mehr eine Würde aus der Hoffnungslosigkeit zu erwachsen, ein fremdes sich nicht mehr aufregen können. Eine allesdurchdringende Melancholie, eine rätselhafte Liebe für Details, für Nebensächlichkeiten rettet diese Figuren.
Bei Truffaut, oder doch sicher bei Charlie, treffen wir auf eine melancholische, fast kindliche Spielart weltzugewandter Gelassenheit, die an Camus erinnert. Dessen Roman L’Étranger, erzählt mit beeindruckender Schlichtheit und Sinnlichkeit. Von einem trüben und tristen Alltag. Camus beschreibt die Hitze, die Öde der Nachmittage, den Staub einer Namenlosen Stadt jedoch dermassen versinnlicht, dass dies seine Erzählung erträglich macht. Allerdings ist im L’Étranger alles mit einem heroischen Nihilismus ausstaffiert, einem existenzielles Pathos, und einer stolzen Portion Bierernst. Nimmt es Wunder, dass die “fremde” Hauptfigur Meursault heisst, was auf Französisch gleichklingend ist mit “Meur, sot“, “Stirb, Narr”.
Da wählt Tirez einen etwas andern Ton. Wo Meursault im L’Étranger nicht schnell genug seinem Leben entkommen kann, steckt Tirez voller Komik, Slapstick. Die camus’che Sinnlichkeit ist auch hier vorhanden, aber sie ist verwoben mit einer kindlichen, einfachen und häufig szenischen Heiterkeit. Charlies Blick auf seine Umgebung, seine märchenhafte Selbstversunkenheit im Angesicht der hektischen Umwelt, seine urteillose, heillose über Freud und Leid schwebende Treue den Dingen des Leben gegenüber, all das rettet irgendwie seine und des Filmes Würde, und erlöst auch uns vom mechanischen Diktat, das besagt, dass eine (Krimi-)Geschichte mit Happy End oder Heldentod oder Offenem Schluss enden muss.